Interkulturelle Kommunikation in der Medizin by Anton Gillessen & Solmaz Golsabahi-Broclawski & André Biakowski & Artur Broclawski
Autor:Anton Gillessen & Solmaz Golsabahi-Broclawski & André Biakowski & Artur Broclawski
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783662590126
Herausgeber: Springer Berlin Heidelberg
17.1 Lebensverhältnisse und kultursensible Anamnese
17.2 Beschneidungen Typ III
17.3 Multiresistente Erreger
17.4 Epidemiologie und Infektiologie (Tuberkulose, Malaria, Skabies, Rickettsiosen)
17.4.1 Tuberkulose
17.4.2 Malaria
17.4.3 Skabies und Rickettsiosen
17.5 Infektionskrankheiten bei Kindern und Jugendlichen
17.6 Impfungen (Fokus Masern)
17.7 Schistosomiasis und Echinokokken
Literatur
17.1 Lebensverhältnisse und kultursensible Anamnese
Das Thema Migration hat den soziokulturellen Aspekten von Krankheit wieder mehr Aufmerksamkeit verschafft. Doch unreflektierte Annahmen über „fremde Kulturen“ sorgen auch in der Medizin für Probleme. Behandelnde Ärzte sind unsicher, welche neuen oder in Deutschland seltenen Krankheitsbilder sie wohl sehen werden, ob von den Patienten eine erhöhte Infektionsgefahr ausgeht, wie sie die kulturellen bzw. sprachlichen Barrieren im Praxisalltag überwinden sollen oder wer am Ende für die nicht immer unerheblichen Kosten einer Behandlung aufkommt. Es gehört zu den grundlegenden Aufgaben von Ärzten, jede Intervention, jede diagnostische oder therapeutische Handlung im Hinblick auf ihren Nutzen und das anvisierte Ziel sowie die potenziellen Gefahren zu beurteilen. Ein ähnliches Vorgehen ist, nach bestmöglichem Wissen, auch im Hinblick auf die Begriffe „Migration“ und „Asylbewerber“ erforderlich.
Im medizinischen Kontext kann der Terminus Migration überall dort sinnvoll verwendet werden, wo ein Zusammenhang zwischen besonderen Krankheitsrisiken, Versorgungsproblemen und/oder konkreten Aspekten des Flucht- und Migrationshintergrunds plausibel erscheint. So gibt es zum Beispiel Hinweise auf Hochrisikogruppen für psychische Erkrankungen oder koronare Herzkrankheiten unter den relativ jungen Migranten der 1. und 2. Generation. Der Migrationsbezug ergibt sich hier aus Beobachtungen bezüglich psychosozialer Belastungen, die das Leben als Migrant in Deutschland mit sich bringen: eine Verortung der eigenen Person zwischen Anpassung und Abgrenzung, Integration und Rückzug (nicht selten mit daraus resultierenden Identitäts- und Loyalitätskonflikten gegenüber der Elterngeneration). Dabei können die Konfliktlinien zum Beispiel zwischen Kindern und Eltern, alter und neuer „Heimat“ durchaus unterschiedlich verlaufen und müssen nicht zwangsläufig mit der Herkunft der Patienten und/oder ihrer Eltern und Großeltern korrelieren.
Kultursensible Anamnese
Eine differenzierte Anamneseerhebung, die auch biografischen und sozialen Aspekten Rechnung trägt und diese medizinisch bewertet, ist zentrale Aufgabe des ärztlichen Handelns.
In der klinischen Praxis (und Forschung) sind verschiedenen Faktoren zu beobachten, die sich im Umgang mit Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund als Herausforderungen erweisen können: Stereotypen, schablonenhafte Denkmuster und unreflektierte Annahmen über fremde Kulturen sind oft von signifikanter Bedeutung. Eine sorgsame, sozial- und kulturanthropologisch fundierte und quellenkritische Verwendung der zentralen Begriffe und Konzepte ist daher eine notwendige Bedingung für eine an der realen Lebenswelt der betroffenen Menschen orientierte Medizin. Hinzu kommen eine adäquate Berücksichtigung juristischer (aufenthaltsrechtlicher) und politischer Aspekte sowie die stärkere Beachtung psychosozialer Zusammenhänge von Krankheiten und Gesundheitsversorgungen (mithilfe bedarfsorientierter Dolmetscherdienste), auch jenseits der entsprechenden medizinischen und psychologischen Spezialdisziplinen. Es ist grundlegend, dass das von Flüchtlingen und Migranten Erlebte (z. B. Folterungen) sowie flucht- und migrationsbedingte sowie seltene erbliche Erkrankungen (z. B. Sichelzellanämie) nicht nur medizinisch, sondern auch im kollektivistischen Krankheitsverständnis des Betroffen beleuchtet werden.
Die Sichelzellanämie sollte bei Verdacht selbst vor kleineren operativen Eingriffen stets abgeklärt werden. Die Betroffenen benötigen aufgrund der veränderten Erythrozyten-Morphologie eine differenziertere Anästhesie- und OP-Planung. Auch bei ungeklärten Genitaliensymptomen, wie einer schwer zu therapierenden Epididymitis oder wiederholt auftretenden granulomatösen Entzündungen, sollte bei Flüchtlingen und Migranten immer auch an eine urogenitale Tuberkulose gedacht werden.
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